Im London des späten 19. Jahrhunderts ist Nell Whitby in den ärmlichsten Verhältnissen aufgewachsen. Kurz vor dem Tod ihrer Mutter hat sie erfahren, daß sie die Tochter des Earl of Rushden ist; dieser hat sich jedoch geweigert, ihr zu helfen, obwohl sie ihm einen Brief mit der Bitte um etwas Geld für einen Arzt für ihre Mutter geschrieben hatte. Nun will sich Nell rächen und dringt in das Stadthaus des Earls ein, um ihn zu erschießen. Allerdings trifft sie nicht ihren inzwischen selbst verstorbenen Vater, sondern dessen Erben Simon St. Maur an. Dieser ist selbst knapp bei Kasse und macht Nell einen nahezu unglaublichen Vorschlag: sie muß ihn nur heiraten, damit sie beide reich werden können. Nell hat nicht viel zu verlieren - und obendrein ist sie von Simon fasziniert...
Auch das vierte Buch von Meredith Duran ist wieder sehr gelungen. Nell und Simon werden wie richtige Persönlichkeiten beschrieben, deren vielschichtige Charaktere nach und nach enthüllt werden. Nell kämpft in erster Linie ums nackte Überleben. Kurz vor Beginn der Handlung hat sie ihre Arbeit in einer Zigarrenfabrik und damit ihren Lebensunterhalt verloren, und ihr brutaler Stiefbruder verlangt, daß sie sich prostituiert. Nell weiß sehr wohl, daß sie Simon in nahezu jeder Hinsicht unterlegen ist: er ist aus ihrer Sicht nicht nur reich, sondern auch mächtig. Dieser Eindruck verstärkt sich, als Simon es in kürzester Zeit schafft, Nells beste Freundin durch Bestechung aus dem Gefängnis zu befreien, wo sie zu Unrecht inhaftiert war.
Nell hat aber auch ihren Stolz; so blickt sie anfangs auf Simons Bedienstete herab, weil diese sich von einem reichen Mann herumkommandieren lassen. Verständlicherweise zögert Nell, sich auf eine Liebesbeziehung mit Simon einzulassen. Ihr ist sehr deutlich bewußt, daß er ihr alles: das Dach über ihrem Kopf, regelmäßige Mahlzeiten, saubere Kleidung und natürlich auch seine Zuneigung, ganz plötzlich wieder entziehen könnte.
Simon wird im Klappentext als "a rake of the first oder" beschrieben, aber ich finde, das trifft es ganz und gar nicht. Simon hat nie verwunden, daß seine Eltern ihn schon als Jungen in die Obhut des Earls of Rushden gegeben haben, dessen Erbe er war, und sich nie wieder um ihn gekümmert haben. Dieser Earl war allem Anschein nach ein richtig mieser Typ, der Simon für sein Interesse an Musik und Literatur verachtete und sein Testament so geschickt verfaßt hat, daß Simon zwar den Adelstitel, aber kein Geld geerbt hat. Durch das Zusammensein mit Nell erkennt er, daß sein Schicksal nicht annähernd so schlimm ist, wie er dachte: er hat zwar kein Vermögen geerbt, ist aber auch nicht arm - und er ist einflußreich und schafft es häufig, durch seinen Charme und sein gutes Aussehen andere Leute zu manipulieren.
Es gibt nicht nur dramatische, sondern auch sehr amüsante Szenen, vor allem, als Nell lernen soll, sich wie eine vornehme Dame zu verhalten. Wer hätte gedacht, daß eine Dame nie den Käse anrührt?
A Lady's Lesson in Scandal hat ein paar kleine logische Schwächen. Ich weiß beispielsweise nicht, was Nell dadurch erreichen will, daß sie ihren Vater erschießt. Das kann für sie doch nur im Gefängnis oder gar mit der Todesstrafe enden. Es wird auch nie erklärt, warum sie als kleines Mädchen entführt und von ihrer Mutter - oder Ziehmutter - in ärmlichsten Verhältnissen aufgezogen wurde.
Dazu kommt, daß das Ende des Buchs etwas übertrieben dramatisch ist.
Alles in allem ist A Lady's Lesson in Scandal jedoch ein von der ersten bis zur letzten Seite fesselndes Buch mit komplexen Charakteren (diesmal sogar von der Art, daß ich sie gern mal kennenlernen würde) und einer spannenden Handlung. Ich würde es jedem empfehlen, der gerne mal einen nicht ganz so fluffigen Historical lesen möchte.
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