Mittwoch, 16. März 2011

Simone Neumann: Die Schlüsselträgerin

In Westdeutschland im Jahr 825 (damals offenbar verwirrenderweise als Sachsen bezeichnet) haben es die Landbevölkerung im Allgemeinen und Inga, die Heldin des Buchs im Besonderen, nicht leicht: das Leben ist hart, jeder Krümel Nahrung muß dem Land unter großen Mühen abgerungen werden, und obendrein hat Karl der Große angeordnet, daß alle seine Untertanen Christen werden, obwohl diese darauf durchaus keinen gesteigerten Wert legen. Inga selbst hat gegen den Willen ihrer Familie Rothger, den Besitzer eines Bauernhofs, geheiratet. Nachdem die Ehe kinderlos blieb, hat sich Rothger eine Nebenfrau zugelegt, und so hat Inga einen schweren Stand in der Familie, besonders als Rothger plötzlich ums Leben kommt. Zunächst kann Inga auf dem Bauernhof bleiben, doch es gibt noch andere unerklärliche Todesfälle. Schon bald ist von Hexerei die Rede; Inga muß den Hof von Rothgers Familie verlassen und nach einer Zeit, in der sie sich allein in einer kleinen Hütte als kräuterkundige Heilerin durchschlägt, muß sie sogar ganz aus der Gegend in die nächstgelegene Kleinstadt fliehen. Neben dem Kampf ums Überleben hat es Inga auch mit der Liebe nicht leicht: sie verliebt sich ausgerechnet in einen der beiden Mönche, die in ihrer Heimat darauf achten sollen, daß die Landbevölkerung nicht zu ihren heidnischen Sitten und Gebräuchen zurückkehrt (was diese natürlich dennoch macht).

Als ich mir das Buch kaufte, hatte ich ja die größten Bedenken wegen des Klappentextes. Zum Glück waren meine Befürchtungen unbegründet: es gibt keine haarsträubendenden Grammatik- und Rechtschreibfehler darin. Allerdings muß das so eine Art "jetzt 20 % mehr in der Packung"-Aktion gewesen sein. Na gut, soviel ist es nicht, aber die Seiten 417 - 448 sind doppelt. Demzufolge müßte die nächste Auflage des Buchs, wenn es darin keine doppelten Seiten mehr gibt, um ca. 6,5 % (bei einer Gesamtstärke von 479 Seiten) günstiger sein, außer natürlich, wenn die Papierpreise bis dahin steigen...aber da kommt wieder die Einkäuferin bei mir durch.

Also, das Buch. Simone Neumann hat einfach eine packende und spannende Art zu schreiben, wie ich finde. Der Grundton des Buches ist, genau wie in "Des Teufels Sanduhr" auch wieder sehr düster, was natürlich angesichts der Situation, in der sich die handelnden Personen befinden, kaum anders möglich ist. Sie leben in einer Zeit in der jeder, der nichts besitzt, quasi rechtlos ist und in der man von einer Minute zur anderen ohne Vorwarnung alles verlieren kann.

Inga, die Heldin und Agius, der Mönch, in den sie sich verliebt, sind als Protagonisten recht interessant, wobei der Leser Agius weitaus weniger gut kennenlernt als Inga. Die beiden sind sehr unterschiedlich: Inga ist weitestgehend eine Pragmatikerin, die so handelt, wie es die Situation erfordert. Solche Leute schätze ich ja sowohl im wirklichen Leben als auch als Buchcharaktere sehr. Gelegentlich stürzt sie sich jedoch auch durch unbedachte Handlungen ins Unglück; eine dieser unbedachten Handlungen war es beispielsweise, daß sie sich mit ihrem verstorbenen Mann eingelassen hat und dadurch von ihrer Familie verstoßen wurde. Inga hat ein Gewissen und einige Prinzipien, denen sie folgt, aber sie kann durchaus nicht in die Kategorie "edle Heldin" eingeordnet werden: nicht selten ist sie berechnend und versucht, andere zu ihrem Vorteil zu manipulieren. Wer könnte es ihr verdenken?

Agius ist im Gegensatz zu Inga weitgereist und gebildet. Er ist Mönch aus Überzeugung, der andere gern mal wegen Verstößen gegen offizielle oder auch inoffizielle Gebote des Mönchslebens zur Ordnung ruft; aber er selbst kann sich die eine oder andere Sünde auch nicht verkneifen. Das fängt damit an, daß er grundsätzlich davon überzeugt ist, immer recht zu haben, geht damit weiter, daß er sich gelegentlich mit höhergestellten Persönlichkeiten anlegt, und endet damit, daß er sich in Inga verliebt, was natürlich absolut tabu ist.

Auch die Nebenfiguren sind interessant. Da ist beispielsweise Agius' Mönchskumpel Melchior, der es liebt, Insekten zu beobachten und der sich gegen alle Wahrscheinlichkeit mit Ingas Freundin Gunda, einer eingefleischten Heidin, anfreundet. Berta und Gisela, Ingas Schwägerinnen, sind die Paris Hilton und Nicole Richie des frühen Mittelalters, nur in ungewaschen. Weitere Verwandte von Inga und Rothger spielen ebenso eine Rolle wie der Mörder, der sich irgendwo in den Wäldern versteckt und nichtsahnende Passanten entführt oder ums Leben bringt. Dieser Mörder hat einen Plan, aber als man versucht, ihm auf die Schliche zu kommen, ist es schon fast zu spät.

Mein einziger Kritikpunkt an dem Buch ist, daß man den Protagonisten nicht richtig nahe kommt. Es gibt Bücher, die so gut geschrieben sind, daß man quasi im Kopf des Helden ist: man ist glücklich, wenn er glücklich ist, friert, wenn ihm kalt ist, und erschrickt, wenn ihm etwas unerwartetes zustößt. Hier liest man beispielsweise: Inga wird vom Hof gejagt; aha. Wat nu? Aber man leidet eben nicht mit ihr.

Trotzdem ist Die Schlüsselträgerin ein spannendes Buch, das in einer Zeit spielt, die selten als Hintergrund für Romane dient. Das macht es interessant. Ich bin schon sehr gespannt, wann und wo das nächste Buch von Simone Neumann spielen wird.

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